Warum beschäftigen sich Unternehmen mit Matrixproduktionssystemen?
Unsichere Stückzahlprognosen, eine hohe Anzahl an Varianten, kleinere Stückzahlen, eine zunehmende Individualisierung der Produkte und äußere Turbulenzen wie die krisen- und kriegsbedingten Unterbrechungen der Lieferketten gehören heute zum Alltag vieler produzierender Unternehmen. Um auf diese Einflüsse reagieren zu können, bedarf es wandlungsfähige Produktionssysteme, welche innerhalb kürzester Zeit auf die sich ändernden Gegebenheiten angepasst werden können. In diesem Zusammenhang werden innerhalb der vergangenen Jahre sogenannte cyber-physische Matrixproduktionssysteme diskutiert. Einige werden bereits in der Industrie betrieben.
Exkurs: Cyber-physisches Produktionssystem
Cyber-physische Produktionssysteme sind im akademischen Kontext seit 2011 ein Diskussionsthema und gelten als praktische Umsetzungsform von Industrie 4.0-Ansätzen in der Produktion. Diese Systeme bestehen aus autonomen und kooperativen Elementen und Teilsystemen, die über alle Ebenen der Produktion miteinander verbunden sind. Das reicht von Prozessen über Maschinen bis hin zu Produktions- und Logistiknetzwerken. Die Hauptmerkmale von cyber-physischen Produktionssystemen sind Intelligenz, Konnektivität und Reaktionsfähigkeit. Durch die erweiterten Möglichkeiten bieten cyber-physische Produktionssysteme neue Potenziale in der Gestaltung von alternativen Produktionsinfrastrukturen und -layouts. Ein Beispiel dafür ist die cyber-physische Matrixproduktion.
Auflösen des Spannungsfeldes Flexibilität vs. Produktivität
Die beiden Größen Flexibilität und Produktivität gelten bisher unter Produktionstechnikern als unvereinbare Gegenpole.
Wie aus der Abbildung 1 zu erkennen ist, gelingt dies den klassischen Produktionssystemen nicht, da sie entweder auf eine hohe Flexibilität (z. B. Werkstattfertigung) oder auf eine hohe Produktivität (z. B. Linienfertigung) ausgelegt sind. Genau da setzt die Zielstellung der Matrixproduktion an – das Spannungsfeld Flexibilität und Produktivität aufzulösen. Die cyber-physische Matrixproduktion bietet die Möglichkeit, bei einer hohen Teilevarianz und gleichzeitig hohen jährlichen Gesamtstückzahl effektiv zu fertigen.
Was zeichnet ein (cyber-physisches) Matrixproduktionssystem aus und wie ist es aufgebaut?
Die Abbildung 2 zeigt beispielhaft eine cyber-physische Matrixproduktion, bei der verschiedene Produkte gefertigt werden.
Die Hauptmerkmale der cyber-physischen Matrixproduktion sind:
- Die Produktionsstruktur besteht aus frei anfahrbaren und logistisch individuell beplanbaren Prozessmodulen, die ein oder mehrere Prozessschritte ausführen
- Die Prozessmodule sind räumlich ähnlich einer Matrix angeordnet (rechteckige Anordnung von Objekten in Zeilen und Spalten).
- Die Prozessmodule werden über einen flexiblen Materialfluss verbunden.
- Das Produktionssystem hat durch den modularen Aufbau die Möglichkeit von aufwandsarmen Rekonfigurationen (sowohl Prozessmodule als auch ganze Abschnitte des Layouts)
- Einsatz von cyber-physischen Elementen und informationstechnische Vernetzung aller Produktionsressourcen
Durch die modulare Struktur und die freie Anfahrbarkeit der Prozessmodule kann der jeweilige Auftrag sich selbst das nächste freie Prozessmodul suchen, wo der nächste erforderliche Arbeitsschritt ausgeführt werden kann. Dadurch sucht sich jeder Auftrag seinen spezifischen Pfad durch die Produktionsstruktur, wodurch eine Taktunabhängigkeit ermöglicht wird. Im Idealfall ist der Materialfluss über AGVs (Automated Guided Vehicle) durch die Autonomie dieser Transportmittel realisiert. Allerdings ist eine Matrixproduktion nicht auf diese begrenzt, es können weiterhin konventionelle Transportmittel wie Stapler, Routenzüge oder Hubwagen zum Einsatz kommen. Damit die cyber-physische Matrixproduktion die versprochene hohe Flexibilität bei einer gleichzeitig hohen Produktivität erreicht, ist die Bewältigung der Komplexität der Steuerung von Aufträgen und Materialfluss entscheidend. Deshalb kommen automatisierte Steuerungen zum Einsatz, die Optimierungscharakteristiken wie die Arbeitsverteilungsflexibilität1 und Operationsreihenfolgeflexibilität2 nutzen. Außerdem gibt es im virtuellen Raum einen Digitalen Zwilling, der die Produktionsprozesse und Fertigungsmodule abbildet. Durch ihn lassen sich Stoffströme und Maschinenauslastungen optimieren.
Fazit
Zusammenfassend besitzt das cyber-physische Matrixproduktionssystem durch die beschriebenen Eigenschaften eine hohe Veränderungsfähigkeit. Diese bezieht sich zum einen auf die Varianten- und Stückzahlflexibilität im operativen Betrieb. Zum anderen auf die Rekonfigurierbarkeit im taktischen Zeitraum, die durch die Modularität, flexible Infrastruktur sowie Vernetzung aufwandsarm ermöglicht wird.
Haben Sie weiteres Interesse zu diesem Thema?
Die Expertise steht unter folgendem Link zum Download bereit. Dort finden Sie weitere spannende Einblicke rund um das Thema Umsetzung einer cyber-physischen Matrixproduktion. Bei weiteren Fragen können Sie sich gern an uns wenden.
Weitere Beiträge zur Expertise werden in naher Zukunft im Rahmen der Beitragsreihe „Cyber-physische Matrixproduktionssysteme in der Industrie“ auf dem Blog Zukunftsfabrik folgen.
1 Ist die auftragsbezogene Zuordnung beziehungsweise Beplanung von Fertigungs- und Montageoperationen zu Prozessmodulen. Falls mehrere Prozessmodule mit gleichen Fähigkeiten bereitstehen, kann dies als Freiheitsgrad genutzt werden, um die Systemauslastung zu nivellieren.
2 Ist die auftragsbezogene Reihenfolge der Fertigungs- und Montageoperationen. Operationsreihenfolgeflexibilität wird durch die Freiheitsgrade der modularen Produktstruktur und Systemstruktur in einer Matrixproduktion ermöglicht.
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